Dienstag, 7. August 2012

Der schachterlweise Untergang des Abendlandes

Habe ich schon mal erwähnt, dass mit der Entwicklung des elektrischen, des automatischen Fensterhebers in Kraftfahrzeugen der bevorstehende Untergang des Abendlandes endgültig eingeleitet worden ist? Es ist so!
Man spare Bewegungsenergie und Zeit, hieß es damals, das lästige Kurbeln falle weg, dass sich jemand das Handgelenk auskugelt, weil der Sitz zu weit vorne platziert ist, wurde praktisch ausgeschlossen, und man habe die Hände frei für wichtigere Dinge – verzweifelt aus dem Fenster winken zum Beispiel, wenn das Steuergerät versagt, die Scheiben sich auf halber Höhe festfressen, eisiger Dunst ins Fahrzeug­innere dringt und bei Minusgraden innen an der Windschutzscheibe gefriert. Da hilft auch keine Klimaanlage mehr – noch so eine Erfindung, die der Erderwärmung nichts, aber auch gar nichts entgegenzusetzen hat. Sollte der bemitleidenswerte Fahrer es mit steif gefrorenen Ohren bei mäßiger Geschwindigkeit – Zeit hatte er ja genug gespart – tatsächlich noch in die Werkstatt schaffen, droht der nächs­te Schock: „Unter Umständen“, lächelt ein Blaumann, „unter Umständen müssen wir das Steuergerät austauschen“. Wir. Ich will gar nicht wissen, was ein Steuergerät kostet. Mich. Außerdem ist Sommer.

Das Steuergerät im Zigarettenautomaten meines Vertrauens jedenfalls funktioniert hervorragend. Entgegen der landläufigen Meinung regelt diese Einheit das Einlesen meiner Kontokarte und den korrekten Auswurf  der gewählten Marke. Wer glaubt, dieses Gerät lege den Steuersatz fest, hat meine Theorie vom Untergang des Abendlandes noch nicht begriffen. Der Steuersatz ist in Ordnung. Er liegt bei rund 73% des Verkaufspreises und setzt sich – beispielsweise bei einer Schachtel Zigaretten für 5 Euro – zusammen aus 2,85 Euro Tabaksteuer und 0,80 Euro Mehrwertsteuer. Der Rest – 1,35 Euro – ist Zigarette.
Der Untergang des Abendlandes liegt im Automaten an sich begründet. Wer jetzt im Morgenland anfängt, hämisch, voller Vor- und Schadenfreude die Hände reibend, zu überlegen, an welchem Mittelmeerstrand er – bei postapokalyptischen Grundstückspreisen – seinen prächtigen Sommerpalast errichten werde, der halte gleich wieder inne: Die Theorie des Untergangs gilt von null Uhr null bis Mitternacht und überall. Es gibt ja auch überall Automaten.

Automaten sparen Zeit und Bewegungsenergie – und damit natürlich ebenso Geld. Ich könnte als Raucher im Kaffeehaus festfrieren, müsste nur ab und zu vor die Tür, um eine durchzuziehen – und käme dabei wie automatisch am Automaten vorbei, der meinen Nachschub bereit hält. Der Weg zum Tabakladen – und zurück – dauerte mindestens sieben Minuten, die Beine und Arme müssten bewegt werden (was, Expertenrufen aus Krankenkassen zufolge, nicht ungesund wäre und speziell Rauchern zu empfehlen), und im Laden wäre zumindest ein Minimum an sprachlicher Kommunikation nötig, falls der Raucher nicht in der Lage ist, präzise zu deuten und die Anzahl der gewünschten Schachteln mit Fingern zu vermitteln – ein Haufen Zeit und Bewegungsenergie.

Die Geschichte mit dem Geld funktioniert folgendermaßen: Während der Mensch im Tabakladen für eine Schachtel meiner favorisierten Zigaretten 4,90 Euro verlangt, nimmt der Automat meines Vertrauens die runde Summe von 5 Euro – mit einem weiteren Unterschied: Die Ladenschachtel enthält 19 Stäbchen, die Automatenschachtel wartet mit 20 Stück auf. Jetzt können Sie rechnen: Dass die automatische Zigarette exakt 0,25 Euro kostet, schaffen wir noch im Kopf. Die Überraschung aber liefert der Taschenrechner: Die erlaufene Zigarette kostet 0,25789 Euro, ist also wesentlich teurer; daraus folgt: Der Automat hilft uns sogar Geld sparen – was zu beweisen war.

Geld, Zeit, Energie: Ich freue mich auf dem Tag, an dem das Steuergerät in meinem Automaten mal nicht so funktioniert, wie es soll, und stattdessen berechnet, mit wie vielen Zigaretten aus dem Automaten ich 0,00789 Euro sparen muss, damit der Mensch im Tabakladen, wenn er denn schon eingespart werden soll, auch was wert ist – und wie lange das erwartungsgemäß dauern wird.

Die Antwort ist einfach: bis zum Untergang des Abendlandes. Grob geschätzt.  

Und oder Oder oder Oder und Und


Manchmal, also selten, beginnen die Tage so gemütlich, dass ich bei einem Blick in die bunten Blätter, die der Tageszeitung ein schöneres Gesicht verleihen, nicht das Gefühl habe, Zeit zu vergeuden. Und so fällt mir der „Geburtstagsrabatt“ ins Auge: „Wenn Sie in diesem Jahr ein runden Geburtstag feiern oder im Monat Oktober ein neues Lebensjahr beginnen, bezahlen die Geburtstagskinder für diese Reise anstatt € 1439,– nur € 1039,– pro Person.“ Pro Person müsste er nicht hinzufügen, der Prospekt; ich fühle mich schon als Person angesprochen – und zwar doppelt. 

Die Reise gehe nach Peking, ins Land der aufgehenden Sonne, ins Land des Lächelns, ins Land des letzten Kaisers (irgendwie), ins Land von Mao Tse-tung, den man heutzutage Mao Zedong schreiben darf, in die Stadt der Kaiser und Paläste. Ich wollte noch nie – höchstens zu Maos Zeiten, und da nur in peripheren Regionen meiner grauen Zellen – nach China – oder doch: War nicht auch Karl May da, als „Blauroter Methusalem“? – oder in dessen Hauptstadt, aber nun, bei diesem Angebot sollte ich wohl zugreifen. Denn: Ich feiere in diesem Jahr einen runden Geburtstag – und ich beginne im Oktober ein neues Lebensjahr. Der Oktober gilt wohl deshalb als Kriterium, weil die besagte China-Reise zu eben diesem Zeitpunkt stattfinden soll.

Alles scheint einfach und klar im Licht der aufgehenden Sonne. Dieses Angebot wendet sich sowohl an Menschen, die in diesem Jahr einen runden Geburtstag feiern, und auch an Menschen, die im Oktober geboren sind. Beides trifft auf mich zu. Zwei mal 400 Euro ergeben nach allen Regeln der Mathematik 800 Euro. Für € 639,– würde sogar ich nach Peking fahren. Ich rufe im Reisebüro an und lege die Tatsachen auf den Tisch: „Ich… Peking… runder Geburtstag… Oktober… zwei Fliegen mit einer Klappe… 639 Euro!“

Der nette Herr am anderen Ende der Leitung, der mich aus der Warteschleife erlöst, steht mit beiden Beinen auf der Erde: „Eine Klappe, eine Fliege“, sagt er, „aber Sie können sich entscheiden, ob sie den Rabatt für den runden oder für den Oktober-Geburtstag in Anspruch nehmen!“ Ich glaube, vorher hat er sogar kurz gelacht. Sieht so aus, als wäre ich nicht der Erste, der mit dieser Rechnung bei ihm anklopft. Es bleibt bei € 1039,–. „Ich werde drüber nachdenken“, sage ich.

Wenn ich im Lotto einen Sechser tippe oder wenn ich bei Spiel 77 alle Ziffern richtig habe, bekomme ich einen Gewinn – sozusagen einen Rabatt auf meinen Einsatz. Wenn ich im Lotto einen Sechser tippe und wenn ich bei Spiel 77 die letzten Ziffern richtig habe, bekomme ich ebenfalls einen Gewinn – und zwar in beiden Disziplinen. Wenn ich in diesem Jahr einen Sechser hätte oder im Oktober bei Spiel 77 alle Ziffern richtig, dann käme die Lottogesellschaft nicht darum herum, mir in diesem Jahr den Sechser (in einer ansehnlichen – wie heute nicht mehr üblich – Summe) oder im Oktober eine erkleckliche Summe für die richtigen Ziffern, die für Spiel 77 ausschlaggebend sind, zu überweisen – oder in einem großen Koffer vorbeizubringen. Oder? Von mir aus auch und. Wär doch schon, oder?

Noch schöner: Ich tippe in diesem Jahr einen Sechser – und im Oktober habe ich alle richtigen Ziffern für Spiel 77 auf meinem Schein. Die eine Gewinnsumme zur anderen addiert ergibt erfahrungsgemäß dann doch einen Betrag, der zwar leicht unter der Eine-Milliarde-Grenze läge, mir aber immerhin eine anstehende Entscheidung abnimmt: Fahre ich für € 639,– oder für € 1039,– nach Peking?
Ich fahre überhaupt nicht nach Peking. China ist mir schnurzegal. Ich muss mein Geld anlegen. Stellt sich die Frage: Sicher oder mit einem klitzekleinen Risiko? Sicher in diesem Jahr – und im Oktober mit einem klitzekleinen Risiko? Sicher und riskant? Soll ich? Ich weiß nicht, das ist sicher riskant. Oder? Na und schon!